Friday, March 25, 2016

Vom Erfinden des Glücks




Aus Tränen und Staub seien die Menschen entstanden, heisst es in einem pharaonischen Mythos. Aus dieser Idee entwickelt die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin ihre Gedanken über das Glück.


von Mansura Eseddin (Mansoura Ez-Eldin)

Aus dem Arabischen von Angela Schader


In den Mythen der Pharaonenzeit heisst es, dass die Menschen aus Tränen erschaffen wurden. Aus den Tränen der Gottheit Ra, die auf die Erde fielen und sich mit dem Staub vermischten. Oder, wie es eine Variante des Mythos will, aus den Tränen Atums, der abendlichen Inkarnation des Sonnengottes Ra. So ist zwar nicht ganz klar, wer nun unser Vater und Schöpfer ist; aber beide Erzählungen decken sich darin, dass wir aus Tränen geschaffen sind.

Ra, so heisst es, habe eines seiner Augen verloren und seine beiden Söhne ausgesandt, es zu suchen. Aber das Warten auf ihre Rückkehr zog sich hin, und schliesslich fertigte sich der Gott selbst ein neues Auge. Als das verlorene endlich zurückgebracht wurde, sah es mit Schrecken, dass sein Platz besetzt war; es überfloss von Tränen des Grams, und aus ihnen entstanden die Menschen.

Ra wollte auch dem überzähligen Auge Wertschätzung und Ehre erweisen. Er übergab es der Gottheit Thot mit dem Befehl, das Auge am Himmelszelt zu befestigen, damit es die Nacht erleuchte. Und so wurde der Mond geboren.

Die altägyptische Schöpfungsgeschichte lehrt uns, dass wir den Tränen auch die Entstehung des Mondes und das Licht am nächtlichen Himmel verdanken; dass den Tränen mithin Glück entsprang und dass Leiden den besten Weg zur Freude weisen kann. Denn im Schatten des Leidens wächst unsere Sehnsucht nach Schönheit und Glück, und im Lichte des Leidens wissen wir diese Geschenke besser zu schätzen.

Ich habe über den Begriff «Glück» nachgedacht und dabei mein Leben neu lesen gelernt. Nicht, dass mich Reue überkommen hätte oder dass ich in Nostalgie versunken wäre. Ich gewahrte lediglich Glücksmomente, die mir im Moment, da ich sie erlebte, nicht als solche erschienen waren. Ich erkannte Trauer, die sich im Gewand der Freude verborgen hatte, und Augenblicke, die ich seinerzeit nicht mit der Tiefe und Intensität empfand, die ihnen gerecht geworden wäre. Ich entdeckte vergangene Glücksmomente, strahlend und überwältigend; aber sie waren verstreut und verzettelt und manchmal schwer auszumachen unter dem Nebel des Gewöhnlichen, Alltäglichen, immer Wiederkehrenden.

Ich erkannte, dass es – mit wenigen Ausnahmen – erfundene, gleichsam handgefertigte Glückserfahrungen waren; ich hatte sie erfunden und bewahrt aus dem festen Glauben heraus, dass Glück eine Sache der Entschlossenheit und des Willens ist. Des Willens, dem Hässlichen und Gemeinen zu widerstehen, im Herzen der Finsternis Lichtpunkte zu suchen und zu sammeln, das Auge daran zu gewöhnen, Schönheit flink zu erhaschen und mit ihr eins zu werden.

Ich lebe derzeit wie auf dem Pulverfass in einer angstzitternden Stadt. Oder ich lebe angstzitternd in einer Stadt – Kairo –, die zum Pulverfass geworden ist, ganz, wie es Dir, geneigter Leser, besser gefällt. So oder so: Dieses Zittern, dies Leben im Zeichen der Gefahr hat alle meine Poren für den Geschmack noch des leichtesten Geisterhauchs von Glück geöffnet, an dem ich mich berauschen kann. In einem solchen von Furcht und lauernder Unsicherheit gezeichneten Leben kann ich trunken werden vom Anblick einer frisch aufgegangenen Rose, eines blühenden Pfirsichbaums oder vom herzhaften Lachen eines Kindes, unbekümmert inmitten dieser verkehrten, verwirrenden Welt.

Es sind kleine, simple Dinge, deren ich mich früher vielleicht nicht einmal geachtet hätte. Aber jetzt reichen sie aus, um Licht in meine Tage zu bringen, mich mit der Energie der Freude zu versorgen, die ich nach Kräften und so lange wie möglich in meiner Erinnerung zu speichern suche – auch wenn ich eigentlich glaube, dass man Freude nicht erinnern kann. Sie ist dem Vergessen geweiht. Denn aus irgendeinem unerklärlichen Grund bewahrt unser Gedächtnis Leid und Kummer und käut sie genüsslich wieder, während Glücksmomente sich bald einmal im Nichts auflösen. Als wäre das Glück seiner Natur nach zerbrechlich, kurzlebig, geneigt, mit dem ersten Windstoss auf und davon zu fliegen, während die Trauer sich dauerhaft niederlässt und Wurzeln schlägt.


Mansura Eseddin, 1976 im Nildelta geboren, ist Schriftstellerin und Journalistin. Auf Deutsch ist ihr Roman «Hinter dem Paradies» erhältlich, ihr jüngstes Werk, «Jabal al-zumurrud», erschien 2014. 

Via: Neue Zürcher Zeitung
29-03-2015

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