Wednesday, July 10, 2019

Die Stadt der Gespenster







            von: Mansoura Ez-eldin (Mansura Essedin)
                       
(Ausschnitt aus dem Roman: "Die Odyssee von Meriam")

Übersetzung: Magdi Gohary, Christine v.dem Knesebeck



Wie im Halbschlaf läuft Meriam durch die Strassen der Stadt. Sie weiß nicht mehr, ob die Welt um sie her wirklich ist oder nicht. Alles scheint weit entfernt und tief in ihrem Inneren verborgen zu sein. Die Menschen, die Teil ihres Lebens waren, haben sich in Geister verwandelt, die sie von Zeit zu Zeit besuchen und sie dann plötzlich, ohne jegliches Mitgefühl, im Zustand der Verzweiflung und Verwirrtheit zu verlassen.

Wie abwesend läuft Meriam weiter. Sie zieht ihre Kleider enger um ihren Körper. Fest tritt sie mit den Füssen auf das Pflaster. Sie zwingt sich irgendwelche sinnlosen Worte auszusprechen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie noch existiert, dass sie auf der Welt ist, einer Welt, die sie vom ersten Augenblick an ausgestoßen hat.

Sie war ein krankes Kind, dem Tod näher als dem Leben. Ihr Magen spie alles, was hinein kam, durch ständiges Erbrechen oder Durchfall wieder aus. Nerges musste ihr dann eine große Dosis Glucose verabreichen um zu verhindern, dass das Leben aus ihren Körper entwich.

Neulich hat Meriam diese Flüssigkeit auf ihrer Zunge geschmeckt, jedes Mal, wenn sie ein Getränk oder eine Speise zu sich genommen hatte. So als ob sie ihr ganzes Leben nichts anderes geschmeckt hätte. Ein Leben, das in Splitter zerfallen war, die nicht zusammenpassen wollten. Ein Leben, das nur diesen durchdringenden Geschmack zurückließ.

Sie hatte es sich ausgesucht, alleine ohne alle Bekannte leben zu wollen. Aber ist sie wirklich diejenige, die sich für diesen Weg entschieden hat?! Kann eine Familie wie die ihrige die Tochter alleine leben lassen, ohne nach ihr zu fragen oder sie zu besuchen? Wo ist diese Familie überhaupt? Und warum fand Meriam, während sie den Ort besuchte, der doch der ihre sein sollte, keine Spur dieser Familie? Niemand dort erkannte sie und sie erkannte ebenfalls niemanden. Sie ging wie ein Geist… leichtfüßig, schwebend, getragen von dem leichtem Wind, der dort immer weht.
Sie suchte jeden Zoll des Dorfes vergeblich nach Nimr, Nerges, Kausar und Saleh ab, nach den Spuren von Josef und Sofia. Die Villa der Familie El Tagi existierte nicht mehr. Der Friedhof, den sie gut kannte und auf dem, wie sie dachte, ihre Lieben begraben lägen, schien nicht der gleiche zu sein. Alles schien das schreckeinflößende Gegenteil von dem, was sie von früher erinnerte. Meriam fühlte sich mit dem Nichts konfrontiert... ein neuer Adam, der ins stürmische Meer ging nachdem Gott ihn verlassen hatte.
Sie setzte sich zwischen zwei Reihen von Gräbern, lehnte sich mit dem Rücken an eines, zündete sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an und begann zu rauchen. Vielleicht würde sie sich so ein wenig beruhigen.

Der Duft von Pfefferminze und Basilikum erinnerte sie an Sofia. Wider Willen musste sie lächeln, als sie in ihrer Phantasie Sofia laufen sah, mit ihren schmutzigen Papieren* und mit Zweigen von Basilikum und Pfefferminze in den Händen, begleitet vom Geräusch ihrer Schritte und dem eindringlichen Geruch des klebrigen Kakteensafts, der ihre Hände und Kleider beschmutzt. Wo ist sie jetzt? Liegt sie in ihrem dunklen Loch oder hat sie ein anderes Grab gefunden, vor dem sie der Schlaf überkam? Oder läuft sie jetzt auf Wegen voller Abfall, auf denen sie schmutzige Papiere aufheben kann und keiner daran Anstoß nimmt? Dort wo nichts und niemand ist, das würde zu ihr passen.

Meriam ist sich sicher, dass sich alles, worauf sie sich stützt, in Nichts auflöst. Was sie aber nicht mehr weiß, ist: Wer sind sie, die sie überallhin verfolgen und sie auffordern zurückzukehren, sich ihnen anzuschließen...und sie anzuerkennen. Sie wünschte sich, sie würde einen langen Alptraum haben. Er sollte damit enden, dass sie in einem warmen Bett aufwachte und ihren Angehörigen die verwirrenden Einzelheiten ihres Traums erzählte.

Yehia tauchte in ihren Gedanken auf. Sie bat ihn darum, sie nicht mit den erbarmungslosen Fragen allein zu lassen. Er soll zurückkommen und ihr Beistand leisten. Sie wusste aber, dass er auf Seite der anderen steht, gegen sie. Sein Schicksal war mit dem Schicksal der anderen verbunden, ihre Existenz ist seine und ihr Verschwinden bedeutet, dass auch er niemals da war.

Sie stand eilig auf, schüttelte den Staub von ihrer Kleidung, richtete mit ihren Händen ihr Haar und lief langsam aus dem Ort hinaus.

* * *

Die Gegenstände und die Erinnerungen, die weit weg sind, verschwinden nicht wirklich, sondern dringen in uns ein, werden von unserem Blut aufgenommen und verschmelzen so mit unseren Zellen, dass sie uns täuschen. Sie spiegeln uns vor, dass das Erinnerungsvermögen sie vollständig gelöscht hätte. Plötzlich dann werden wir von ihnen überrascht, wenn sie wie einzelne Splitter herausfallen. Die Erinnerungen erscheinen als einheitliches Ganzes ohne klare Einzelheiten... Ein Zustand, der uns traurig oder sehnsüchtig oder glücklich macht, ohne dass wir jemals an seine Quelle gelangen können. 

So kann der Duft von Pfefferminze und von Basilikum Sofia mit Haut und Haar zurück bringen, und eine Rauchwolke an Youssuf erinnern. Ein grimmiger Gesichtsausdruck lässt sofort die Züge von Nerges und ein Beerdigungszelt die friedliche Seele von Saleh auftauchen. Aber was wird Meriam hinterlassen, wenn ihr Ende gekommen ist? Was bleibt von ihr im Bewusstsein von höchstens zwei oder drei Menschen?

Meriam bewegt sich in einer Stadt aus Papier. Nur Gebäude und Strassen aus Karton, die darauf warten von etwas Gegenwind völlig weggefegt zu werden und die Ruine freizulegen, die in ihrem Wesen verborgen liegt.

Riesige Holzwürmer nagen an allem...raffinierte Holzwürmer, die sehr langsam am Herzen der Dinge nagen, damit sie von niemandem entdeckt werden.

Die Stadt ist in leichtes Dunkel gehüllt. Meriam bewegt sich darin ohne zu wissen, was um sie herum geschieht... Ihr Gehirn arbeitet schnell und chaotisch aber es ist unfähig zu begreifen. In diesem Augenblick war sie nicht nur mit dem Verschwinden von Yehia oder dem Schicksal von Radwi beschäftigt... Sie suchte nach dem, was tiefer darunter lag... Was trieb alle in den Wahnsinn. Ist Sofia erst wahnsinnig geworden und danach all diese Dinge? Oder ist der Wahnsinn der Ursprung und alles andere ist bloß ein Produkt der Phantasie?

Yehia hat sie in seine Welt geholt. Er hat sie von allem getrennt, mit dem sie sich verbunden gefühlt hatte. Er wollte ihre Seele erobern. Er brachte sie zu all dem, was sie als schweres Verbrechen ansah. Bei ihm hat sie keine Sekunde inne gehalten, um zu überlegen, was geschah... Sie hat nichts von der Wirklichkeit um sie her bemerkt. Wenn sie an ihre gemeinsame Beziehung denkt, fühlt sie sich, als ob sie sich beide in einer tödlichen Leere bewegt haben.

Am ersten Tag in seinem Haus hat sie sich wie eine Schlafwanderin bewegt. Vorsichtig berührte sie die Gegenstände, ging von der Küche in den Salon, dann in sein Arbeitszimmer, klopfte an die Möbel, während er sie verwundert beobachtete.

Das Gefühl, das sie beherrschte und von dem sie sich versucht hatte zu befreien, war aber der Geruch des Todes in Yehia selbst... Ein Geruch, der von ihm ausging, ihn umhüllte und ihn mit einer geheimnisvollen Aura umgab. In ihrem Leben mit ihm hatte sie den Tod in einer Weise eingeatmet, die sie nie verstanden hatte.

Alles, was sie heute mit einander verbindet, sind verschwommene, ungeordnete, von einander losgelöste Erinnerungen. Manchmal erinnert sie sich an viele Einzelheiten, die sich zu vollständigen klaren Szenen zusammenfügten. Was sie aber nie herausfand, war, ob diese Szenen und Ereignisse wirklich stattgefunden hatten oder nicht? Ihr Gedächtnis wird von Yehias kindlichem Lächeln und seinem klugen, beobachtenden Blick überschwemmt. Aber sie fragt sich erneut: Wenn es diesen Menschen gibt, wo ist er dann hingegangen?

Gestern in der Wohnung in Abdin, beim Stöbern in alten Unterlagen in der hölzernen Kiste von Sofia, fand sie die Heiratsurkunde des Ehepaares Meriam Youssuf El Tagi und Yehia Elgindi. Das Foto in der Urkunde hatte dieselben Merkmale, die ihr Gesicht jetzt hat: dunkler Teint, schulterlanges kohlschwarzes Haar und schwarze Augen. Weit entfernt von Meriam, wie sie sie kannte, mit ihrem braunen langen Haar, ihrer feinen Nase, ihrem honigfarbenen, versonnener Blick, den sie von Sofia geerbt hat. Das Foto von Yehia entsprach aber dem, woran sie sich erinnerte.
Was sie aber wirklich erstaunte, war die Existenz einer Heiratsurkunde überhaupt... Sie ist und war schon immer überzeugt, dass sie Yehia nicht geheiratet hatte und dass ein solches Dokument nicht existiert hatte.

Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie davon geträumt, nackt in seinen Armen zu liegen. Er war ebenfalls nackt. Während er sie heftig umarmte, ging die Tür auf und Youssuf, Nerges, Kausar, Saleh, Zainab und fremde Kinder kamen herein und riefen ihren Namen. Sie schrie „Oh, meine Schande... Oh, meine Schande“. Sie wiederholte diese Worte verzweifelt und melodramatisch, während sie versuchte, sich zuzudecken  Meriam spürt, dass dieser Traum ihre Beziehung zu Yehia noch immer bestimmt und sie deutet.

Wenn sie mit ihm zusammen war, fühlte sie sich immer von jemandem beobachtet, der ihre verzweifelten Versuche, sich im Leben zu integrieren, verspottete. War er ein Redakteur dieser Zeitung? Warum fand sie dort keine Spur von ihm und wie hatte sie ihn dann getroffen?
Meriam kennt keine Antwort auf all diese Fragen. Sie muss in den Zustand der Verlorenheit hinnehmen und sich auf die einfachsten Dinge stützen, deren sie sich sicher ist.

Die Wohnung von Yehia war nicht groß...seine Räume waren geordnet, nichts dort war der Phantasie überlassen, es gab wenig freien Platz. Yehia war bemüht, die Räume mit Möbeln vollzustellen. Als ob diese Möbelstücke den Ort festzurren würden und ihn daran hinderten abzuheben und zu verschwinden. Die Wände waren voll mit Bildern und Fotos.

Manchmal hatte Meriam das Gefühl, als ob ein kleines Kind an ihrem gemeinsamen Leben teilgenommen hätte. Aber sie erinnerte von diesem Kind nur seine blonden Haare und seine honigfarbigen Augen. War das ihr Kind? Aber sie war nie schwanger oder hatte nie eine Geburt, das hätte sich in ihrem Innern eingegraben. Außerdem war an ihrem Körper keine Spur davon zu sehen.

Wer ist wohl dieses Kind? Gehörte es nur zu Yehia alleine? Meriam beschleicht das Gefühl, dass die Lösung dieses Lebensrätsels zuallererst in der Hand von Yehia liegt und weiter in der von Radwan. Und dass das plötzliche Verschwinden der beiden sie tötet... Gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden?

Sie versuchte mehrmals vergeblich Yehias Haus zu finden. Ihres Wissens wohnte er in einer bestimmten Straße (auf der Nilinsel, Anm. d. Übers.) in Manial. Als sie in der Strasse aber in Richtung des Hauses ging, in der seine Wohnung sein sollte, fand sie zu ihrem Erstaunen ein anderes, ihr unbekanntes Gebäude vor, an dem sie niemals vorbei gegangen war. Sie überwand ihre Verwirrung und fragte den Türhüter nach der Wohnung von Yehia. Der Mann sah sie angewidert an, als ob sie etwas verbrochen hätte und verfluchte die leichten Mädchen. Kurz davor bewusstlos zu werden, schleppte sie sich von ihm weg.

Die Strassen verwandelten sich für sie in bösartige Wesen, die sich in einem furchterregenden, sich wiederholenden Spiel gegen sie verschworen. Das Spiel lief immer vollkommen gleich ab. Es glich einem großen Labyrinth, das von geschickter Hand angelegt war, damit Meriam sich in ihm verlief. Meriam vermied es, auf den Straßen dieser gespenstischen Stadt zu laufen, deren Licht spärlich war, woran auch die Laternen nichts ändern konnten.

Früher hatte Meriam die Straßen der Stadt in- und auswendig gewußt. Sie hatte es geliebt, in ihnen zu flanieren. Mit liebevollem Blick hatte sie den Staub auf den Häusern und den Bäumen und die Wolken von Abgasen angesehen. Sie hatte auch die Plätze der Bettler gekannt. Jetzt stand sie einer anderen höllischen Stadt gegenüber, die versuchte, Meriam das Leben zu rauben. Sie erkannte keinen der Einwohner, so als ob sie alle durch andere Wesen ersetzt worden wären, Wesen, die versuchten die Stadtbewohner zu imitieren, damit das Spiel nicht durchschaut würde und jeder in seinem eigenen Labyrinth gefangen blieb. Oder warum kennt Meriam jetzt keinen ihrer Lieblingsplätze mehr? Warum sind alle, die sie kannte, verschwunden und haben sie in dieser Leere zurückgelassen?

„Das problematische Weib“ so hat Yehia sie genannt. Wieso sind ihre Rollen jetzt vertauscht? Er hat sich in einen Menschen aus Quecksilber verwandelt, der zwischen ihren Finger zerrinnt. Er war davon überzeugt, sie würde ihn auf jeden Fall vernichten. Jetzt ist sie sich nicht mehr sicher, ob er es ernst meinte oder ob es nur Spaß war? Sie wiederum hatte in seiner Nähe den Eindruck, er bringe sie dem Tod näher. Einem sanften und freundlichen Tod, an den man sich gewöhnen könnte. Meriam hatte ihm gegenüber nie ein schlechtes Gewissen wegen dieses Gefühls. Es war von ihrem eigenen Willen nicht abhängig.

Der Todesgeruch, da täuschte sich Meriams Nase nicht, strömte aus seinem Körper, trotz seiner Lebendigkeit und seiner Lebensbejahung. Im Gegensatz zu Youssuf liebte Yehia das Leben und setzte sich mit ihm auseinander. Er versuchte auch Meriam mit allen Mitteln dahin zu bringen. Er wusste, dass sie aus einer Familie stammte, die aus Toten bestand. Tote, die nichts anderes waren als neblige Erinnerungen, hinter denen keine lebendigen Menschen zu vermuten sind und die sich in Vorspiegelungen verwandelten: in den Duft von Pfefferminze und Basilikum, in ein Beerdigungszelt, in einen  grimmigen Gesichtsausdruck und in Rauchwolken von Haschisch-Zigaretten.

Meriam versuchte den Tod philosophisch zu nehmen, aber sie fiel in seine geschickt aufgestellten Fallen. Sie redete sich ein, der Tod lebte in Yehia und dachte nicht daran zu überlegen, ob er vielleicht in ihr sein könnte? Die kindlichen Augen Yehias brachten Meriam ihrem unausweichlichen Schicksal näher. Die zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen ihnen hätten ihr viele interessante Geschichten bescheren können, die sie angeregt und begeistert angehört hätte. Sie hätten ihre Vorstellung, Yehia sei nur ein Synonym für den Tod, der über ihrem Leben steht, verdrängt.

Jetzt geht Meriam oft auf den Straßen der Innenstadt spazieren, die sich wie die Arme eines Tintenfischs ausstrecken. Sie verlangsamt ihren Gang vor den Plätzen, an denen sie früher zusammen waren und schaut sich die Gesichter der Gäste hinter den gläsernen Vitrinen der Kaffeehäuser an. Sie erkennt aber niemanden von ihnen, obwohl sie diese Plätze so oft besucht hat. Sie bleibt auf ihrem nicht enden wollenden Weg, ist aber von Furcht erfüllt, wenn sie nachts die Kasr El Nil Straße betritt. Auf der Kreuzung mit der Sherif Strasse spürt Meriam, dass all ihre Furcht vor diesem Viertel Kairos berechtigt ist. Denn dieser Teil von Kasr El Nil sieht so aus, als ob er einer Horrorgeschichte entstammt. Er ist geprägt von Dunkelheit und von seinen verfallenen Gebäuden, die wie Ungeheuer aus alten Sagen aussehen, und er ist menschenleer.

*) Sofia ist die geistig verwirrte Großmutter der Erzählerin, die alte Papiere sammelt.

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