Thursday, March 31, 2016

Die Schriftstellerin Mansura Eseddin im Gespräch: Was bleibt vom Geist der Revolte?




Die ägyptische Autorin Mansura Eseddin ist den NZZ-Lesern seit 2011 durch ihre im Feuilleton erschienenen Beiträge bekannt. Sie erzählt von verlorenen Hoffnungen und von den Gegenwelten der Phantasie.

Interview von Angela Schader
9.11.2015, 05:30 Uhr




In Ihrem Roman «Hinter dem Paradies» und noch mehr im erst ins Englische übersetzten Erstling «Maryam's Maze» sind Entfremdung, Persönlichkeitsspaltung, Selbstverlust zentrale Motive. Warum beschäftigt Sie dieses Thema so sehr?

Für mich ist das eine zutiefst persönliche Erfahrung. Ich fühlte mich immer irgendwie fehl am Platz, sogar in dem kleinen Dorf, wo ich geboren wurde. Ich hatte das Gefühl, nicht am rechten Ort, in der rechten Zeit zu sein. Schon als Kind habe ich mir Parallelwelten ausgedacht. Das hatte auch damit zu tun, dass der Tod sehr früh in mein Leben trat. Ich habe mehrere Geschwister verloren, und als ich neun war, starb mein Vater, der mir sehr nahestand. Ich konnte das nicht akzeptieren. So begann ich, mir andere Welten und andere Leben für die Angehörigen vorzustellen, die ich verloren hatte. Das entfremdete mich den Menschen noch mehr, aber es war eine Schulung für meine Phantasie.Dazu kam mit der Zeit das tiefe Unbehagen, das in Ägypten für meine Generation eine Art Grundbefindlichkeit war. Dreissig Jahre lang lebte ich unter der Herrschaft desselben Präsidenten. Das gibt einem das Gefühl, rein nichts verändern zu können; und manchmal rebelliert man, indem man sich selbst zum Aussenseiter macht. Das gibt einem zumindest die Möglichkeit einer kritischen Distanz. Eigentlich müssen alle Schriftsteller Aussenseiter sein. Wenn man zu involviert ist, wird man leicht blind – das ist mir zu Beginn der Revolution selbst passiert.

Sie haben in Ihrem Schaffen von Beginn an auf eine Literatur gesetzt, die irritiert und Ansprüche an den Leser stellt. Wie kam das beim Publikum an?

Meine ersten Erzählungen veröffentlichte ich Mitte der 1990er Jahre, als ich um die zwanzig war. Es waren dunkle, unheimliche Geschichten, und derlei erwartete man nicht von einer jungen Schriftstellerin. Damals schrieben arabische Autorinnen in der Regel persönliche, autobiografisch grundierte Bücher; imaginatives Schreiben war die Ausnahme. Interessanterweise haben auch manche westlichen Kritiker und Leser befremdet darauf reagiert. Ich erinnere mich an einen Zuhörer bei einer Lesung in Manchester, der meinte, ich solle mich doch lieber mit den Problemen der arabischen Frau befassen. Aber ich muss auch sagen, dass ich anderseits sehr viele positive, ermutigende Reaktionen auf meine Texte erhalten habe.

In diesen imaginativen Szenarien greifen Sie auch auf die eigene Kulturtradition zurück.

Ja, der islamischen Kultur und der ägyptischen Folklore schulde ich viel. Die metaphysische Seite der Religion interessiert mich, aber auch der Volksglaube: In dem Dorf im Nildelta, wo ich aufwuchs, waren Geister nicht etwas aus dem Kinderbuch, sondern Teil des täglichen Lebens. Die ältere Generation glaubte mit aller Selbstverständlichkeit, dass der Nil von Dschinnen und Feen bewohnt wird; auch das trug dazu bei, dass die reale und die imaginäre Welt für mich nicht wirklich getrennt sind. Auch den Märchen aus «Tausendundeiner Nacht» schulde ich sehr viel. Als ich klein war, hat meine Grossmutter Geschichten erzählt, von denen ich später viele in «Tausendundeiner Nacht» wiederfand. Das Interessante ist, dass meine Grossmutter keinerlei Bildung hatte, sie hatte von dieser Sammlung nie auch nur gehört; dennoch sind ihr die Erzählungen durch die Generationen hindurch vererbt worden. Im Zentrum meines neuen Romans, «Jabal al-Zumurrud» (Der Smaragdberg), steht übrigens ein verlorengegangenes Märchen aus «Tausendundeiner Nacht» – ein Märchen, das magische Kräfte hat.

Diesen dritten, bisher noch nicht übersetzten Roman haben Sie zwei Monate vor der Revolution begonnen und dann längere Zeit beiseitegelegt. War das Buch, das 2013 erschien, noch dasselbe, das Sie Ende 2010 konzipiert hatten?

Tatsächlich hat sich das Konzept des Romans radikal verändert. Ende 2011 war es offensichtlich, dass der Traum der Revolution sich in einen Albtraum zu verwandeln begann . Da griff ich wieder zu den Märchen aus «Tausendundeiner Nacht», sie wurden eine Art Zuflucht und Trost. Ich hatte damals das Gefühl, dass Schreiben nutz- und sinnlos ist; Worte können die Schrecken der Realität nicht verändern. Aber in «Tausendundeiner Nacht» geschieht es immer wieder – nicht nur in der Rahmenerzählung –, dass eine schöne Geschichte ein Schicksal verändert oder ein Leben rettet. So stellte ich mir, als ich die Arbeit am Roman wiederaufnahm, ein solches Märchen vor. Anderseits spürte ich beim Schreiben, wie sehr mich der ganze Horror ringsum beeinflusste; viele Figuren erleiden ein entsprechendes Schicksal.

Die ägyptische Kulturlandschaft hat sich in den letzten Jahren wohl ebenfalls stark gewandelt?

Bis 2011 arbeitete ich als Literaturredaktorin beim Kulturmagazin «Akhbar al-Adab», dann unterbrach ich diese Tätigkeit für drei Jahre. Als ich im August 2014 wieder zurückkehrte, war nichts mehr wie zuvor. Zahlreiche kleine Verlage waren entstanden, die nun die Szene dominierten, während grössere Verlage ihre Vormachtstellung verloren hatten. Autoren, die früher regelmässig auf den Bestsellerlisten standen, waren aus dem Rampenlicht verschwunden, andere waren an ihre Stelle getreten. Auffällig ist, dass eine seichte Horror- und Fantasy-Literatur bei den Lesern derzeit besonders gut ankommt. Die Leute wollen der Realität ringsum entfliehen, darum brauchen sie solche anspruchslosen Lektüren.Trotzdem glaube ich, dass sich die ägyptische Literatur momentan in einer Blütezeit befindet. Es gibt eine Menge guter Romane in unterschiedlichsten Genres, aber unglücklicherweise findet sich kein grosses Publikum für experimentelle Literatur. Das war auch früher so, aber es änderte sich in der letzten Dekade vor der Revolution; damals entstand eine Leserschaft für anspruchsvolle Werke. Jetzt ist es anders. Jeder kann alles publizieren, literarische Qualität ist nicht mehr vonnöten.

Die Repression unter Präsident al-Sisi ist schlimmer als zu Mubaraks Zeiten; ist das auch für Schriftsteller und Kulturschaffende spürbar?

Natürlich, aber nicht auf direkte Art. In Ägypten gibt es zum Beispiel keine Zensur vor der Publikation. Wenn Sie unsere neue Romanliteratur lesen würden, dann wären Sie beeindruckt – viele Autoren sind wagemutig, rebellisch, brechen Tabus. Deshalb versteht man nicht auf den ersten Blick, warum Zensur dennoch ein Thema ist. Sie kommt ins Spiel, wenn irgendein senkrechter Bürger ein Buch liest und vor Gericht geht, weil er das Gefühl hat, es verstosse gegen die öffentliche Moral oder beleidige die Nation. Die Literaturschaffenden fühlen sich dadurch aber eigentlich nicht behindert – wie ich schon sagte, gibt es viele, die sich sehr weit vorwagen, und auch mutige Verlage, die diese Bücher auf den Markt bringen. Und ohne die Zensurfälle kleinreden zu wollen, muss ich doch sagen, dass sie eher die Ausnahme von der Regel sind.

Die Medien dagegen stehen unter massivem Druck seitens der Regierung. Bilden die Social Media nach wie vor – wie zur Zeit der Revolte – eine Gegenöffentlichkeit, in der Informationen und Meinungen freier kursieren können?

Ja, verglichen mit Presse und Fernsehen sind die Social Media wesentlich freier. Aber man wird für das, was man schreibt, auch häufig angegriffen, zum Beispiel von Anhängern Sisis oder der Muslimbrüder. Leider sind die Social Media nicht mehr, wie in der Zeit der Revolution, ein Medium für Dialog und Kommunikation; sie dienen hauptsächlich dem Austausch von Beleidigungen. Alle sind wütend und hacken aufeinander herum. Aber man kann sogar darin noch etwas Positives sehen. Vor der Revolution hatte ich das Gefühl, dass alle genau wie die andern sein wollten, man war Ägypter, man war Teil der Nation. Die Revolution liess die Menschen gewahr werden, dass das eine Illusion ist; sie zwang die Leute, die anderen zu sehen, wie sie sind, und all die Brüche in der Gesellschaft zu erkennen . Für mich ist das eine aufklärerische Erfahrung; es ist das Wertvollste, was wir von der Revolution bewahren konnten.

Als Mohammed Mursi gestürzt wurde, hatten Sie die Hoffnung, dass der Geist der Revolution Ägypten auch weiterhin vor neuen Diktatoren schützen würde. Es scheint schwer, noch daran zu glauben.

Ohne Hoffnung können wir nicht leben, nicht wahr? Natürlich versuche ich gleichzeitig, nicht naiv zu sein. Es wird keine Revolution geben, wenn das Volk sie nicht mitträgt. Aber im Moment haben die Menschen das Gefühl, dass eine Revolution nicht der richtige Weg zur Veränderung ist. Viele Ägypter möchten vor allem Sicherheit; sie wollen nicht dasselbe Schicksal erleiden wie der Irak oder Syrien. Das kann ich verstehen. Was ich weniger gut begreife, ist, dass sie deshalb sogar bereit sind, einen neuen Diktator zu unterstützen . Auch die Staatsmedien spielen dabei eine Rolle. Sie verzerren einerseits das Bild der Revolution, stellen sie als eine Verschwörung fremder Mächte dar. Gleichzeitig gelingt es dem Regime paradoxerweise, den Leuten weiszumachen, es sei der wahre Beschützer der Werte, welche die ägyptische Revolution portiert hatte.

Wie gehen Aktivisten, die sich – wie Sie – an vorderster Front für die Revolution engagierten, mit dieser Situation um?

Viele Aktivisten glauben noch immer an ihre Ziele. Aber sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Am Anfang war es unser Stolz, dass es in der Bewegung keine Führer gab. Aber faktisch würden wir jemanden brauchen, der unsere Bewegung organisiert und ihr eine Richtung gibt. Übrigens wird auch in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit dem Sisi-Regime spürbar, aber die Menschen fragen sich: Was ist die Alternative? Was könnten wir überhaupt tun? Und das sind leider sehr vernünftige Fragen.

Haben Sie sich angesichts dieser Situation auch schon überlegt, das Land zu verlassen?


Ich hoffe, dass ich nicht fortgehen muss. Für mich ist diese Zeit ein essenzieller Lernprozess. Aber wenn ich es einfach nicht mehr aushalte oder wenn die Sicherheit meiner Kinder gefährdet ist – dann werde ich vielleicht gezwungen sein, über das Fortgehen nachzudenken.

Via: Neue Zürcher Zeitung 

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