Die ägyptische Autorin Mansura
Eseddin ist den NZZ-Lesern seit 2011 durch ihre im Feuilleton erschienenen
Beiträge bekannt. Sie erzählt von verlorenen Hoffnungen und von den Gegenwelten
der Phantasie.
Interview von Angela Schader
9.11.2015,
05:30 Uhr
In Ihrem Roman «Hinter dem Paradies»
und noch mehr im erst ins Englische übersetzten Erstling «Maryam's Maze» sind
Entfremdung, Persönlichkeitsspaltung, Selbstverlust zentrale Motive. Warum
beschäftigt Sie dieses Thema so sehr?
Für mich ist das eine zutiefst
persönliche Erfahrung. Ich fühlte mich immer irgendwie fehl am Platz, sogar in
dem kleinen Dorf, wo ich geboren wurde. Ich hatte das Gefühl, nicht am rechten
Ort, in der rechten Zeit zu sein. Schon als Kind habe ich mir Parallelwelten
ausgedacht. Das hatte auch damit zu tun, dass der Tod sehr früh in mein Leben
trat. Ich habe mehrere Geschwister verloren, und als ich neun war, starb mein
Vater, der mir sehr nahestand. Ich konnte das nicht akzeptieren. So begann ich,
mir andere Welten und andere Leben für die Angehörigen vorzustellen, die ich
verloren hatte. Das entfremdete mich den Menschen noch mehr, aber es war eine
Schulung für meine Phantasie.Dazu kam mit der Zeit das tiefe Unbehagen, das in
Ägypten für meine Generation eine Art Grundbefindlichkeit war. Dreissig Jahre
lang lebte ich unter der Herrschaft desselben Präsidenten. Das gibt einem das
Gefühl, rein nichts verändern zu können; und manchmal rebelliert man, indem man
sich selbst zum Aussenseiter macht. Das gibt einem zumindest die Möglichkeit
einer kritischen Distanz. Eigentlich müssen alle Schriftsteller Aussenseiter
sein. Wenn man zu involviert ist, wird man leicht blind – das ist mir zu Beginn
der Revolution selbst passiert.
Sie haben in Ihrem Schaffen von
Beginn an auf eine Literatur gesetzt, die irritiert und Ansprüche an den Leser
stellt. Wie kam das beim Publikum an?
Meine ersten Erzählungen
veröffentlichte ich Mitte der 1990er Jahre, als ich um die zwanzig war. Es
waren dunkle, unheimliche Geschichten, und derlei erwartete man nicht von einer
jungen Schriftstellerin. Damals schrieben arabische Autorinnen in der Regel
persönliche, autobiografisch grundierte Bücher; imaginatives Schreiben war die
Ausnahme. Interessanterweise haben auch manche westlichen Kritiker und Leser
befremdet darauf reagiert. Ich erinnere mich an einen Zuhörer bei einer Lesung
in Manchester, der meinte, ich solle mich doch lieber mit den Problemen der
arabischen Frau befassen. Aber ich muss auch sagen, dass ich anderseits sehr
viele positive, ermutigende Reaktionen auf meine Texte erhalten habe.
In diesen imaginativen Szenarien
greifen Sie auch auf die eigene Kulturtradition zurück.
Ja, der islamischen Kultur und der
ägyptischen Folklore schulde ich viel. Die metaphysische Seite der Religion
interessiert mich, aber auch der Volksglaube: In dem Dorf im Nildelta, wo ich
aufwuchs, waren Geister nicht etwas aus dem Kinderbuch, sondern Teil des
täglichen Lebens. Die ältere Generation glaubte mit aller
Selbstverständlichkeit, dass der Nil von Dschinnen und Feen bewohnt wird; auch
das trug dazu bei, dass die reale und die imaginäre Welt für mich nicht
wirklich getrennt sind. Auch den Märchen aus «Tausendundeiner Nacht» schulde
ich sehr viel. Als ich klein war, hat meine Grossmutter Geschichten erzählt,
von denen ich später viele in «Tausendundeiner Nacht» wiederfand. Das
Interessante ist, dass meine Grossmutter keinerlei Bildung hatte, sie hatte von
dieser Sammlung nie auch nur gehört; dennoch sind ihr die Erzählungen durch die
Generationen hindurch vererbt worden. Im Zentrum meines neuen Romans, «Jabal
al-Zumurrud» (Der Smaragdberg), steht übrigens ein verlorengegangenes Märchen
aus «Tausendundeiner Nacht» – ein Märchen, das magische Kräfte hat.
Diesen dritten, bisher noch nicht
übersetzten Roman haben Sie zwei Monate vor der Revolution begonnen und dann
längere Zeit beiseitegelegt. War das Buch, das 2013 erschien, noch dasselbe,
das Sie Ende 2010 konzipiert hatten?
Tatsächlich hat sich das Konzept des
Romans radikal verändert. Ende 2011 war es offensichtlich, dass der Traum der
Revolution sich in einen Albtraum zu verwandeln begann . Da griff ich wieder zu
den Märchen aus «Tausendundeiner Nacht», sie wurden eine Art Zuflucht und
Trost. Ich hatte damals das Gefühl, dass Schreiben nutz- und sinnlos ist; Worte
können die Schrecken der Realität nicht verändern. Aber in «Tausendundeiner
Nacht» geschieht es immer wieder – nicht nur in der Rahmenerzählung –, dass
eine schöne Geschichte ein Schicksal verändert oder ein Leben rettet. So
stellte ich mir, als ich die Arbeit am Roman wiederaufnahm, ein solches Märchen
vor. Anderseits spürte ich beim Schreiben, wie sehr mich der ganze Horror
ringsum beeinflusste; viele Figuren erleiden ein entsprechendes Schicksal.
Die ägyptische Kulturlandschaft hat
sich in den letzten Jahren wohl ebenfalls stark gewandelt?
Bis 2011 arbeitete ich als
Literaturredaktorin beim Kulturmagazin «Akhbar al-Adab», dann unterbrach ich
diese Tätigkeit für drei Jahre. Als ich im August 2014 wieder zurückkehrte, war
nichts mehr wie zuvor. Zahlreiche kleine Verlage waren entstanden, die nun die
Szene dominierten, während grössere Verlage ihre Vormachtstellung verloren
hatten. Autoren, die früher regelmässig auf den Bestsellerlisten standen, waren
aus dem Rampenlicht verschwunden, andere waren an ihre Stelle getreten.
Auffällig ist, dass eine seichte Horror- und Fantasy-Literatur bei den Lesern
derzeit besonders gut ankommt. Die Leute wollen der Realität ringsum
entfliehen, darum brauchen sie solche anspruchslosen Lektüren.Trotzdem glaube
ich, dass sich die ägyptische Literatur momentan in einer Blütezeit befindet.
Es gibt eine Menge guter Romane in unterschiedlichsten Genres, aber
unglücklicherweise findet sich kein grosses Publikum für experimentelle
Literatur. Das war auch früher so, aber es änderte sich in der letzten Dekade
vor der Revolution; damals entstand eine Leserschaft für anspruchsvolle Werke.
Jetzt ist es anders. Jeder kann alles publizieren, literarische Qualität ist
nicht mehr vonnöten.
Die Repression unter Präsident
al-Sisi ist schlimmer als zu Mubaraks Zeiten; ist das auch für Schriftsteller
und Kulturschaffende spürbar?
Natürlich, aber nicht auf direkte
Art. In Ägypten gibt es zum Beispiel keine Zensur vor der Publikation. Wenn Sie
unsere neue Romanliteratur lesen würden, dann wären Sie beeindruckt – viele
Autoren sind wagemutig, rebellisch, brechen Tabus. Deshalb versteht man nicht
auf den ersten Blick, warum Zensur dennoch ein Thema ist. Sie kommt ins Spiel,
wenn irgendein senkrechter Bürger ein Buch liest und vor Gericht geht, weil er
das Gefühl hat, es verstosse gegen die öffentliche Moral oder beleidige die
Nation. Die Literaturschaffenden fühlen sich dadurch aber eigentlich nicht
behindert – wie ich schon sagte, gibt es viele, die sich sehr weit vorwagen,
und auch mutige Verlage, die diese Bücher auf den Markt bringen. Und ohne die
Zensurfälle kleinreden zu wollen, muss ich doch sagen, dass sie eher die
Ausnahme von der Regel sind.
Die Medien dagegen stehen unter
massivem Druck seitens der Regierung. Bilden die Social Media nach wie vor –
wie zur Zeit der Revolte – eine Gegenöffentlichkeit, in der Informationen und
Meinungen freier kursieren können?
Ja, verglichen mit Presse und
Fernsehen sind die Social Media wesentlich freier. Aber man wird für das, was
man schreibt, auch häufig angegriffen, zum Beispiel von Anhängern Sisis oder
der Muslimbrüder. Leider sind die Social Media nicht mehr, wie in der Zeit der
Revolution, ein Medium für Dialog und Kommunikation; sie dienen hauptsächlich
dem Austausch von Beleidigungen. Alle sind wütend und hacken aufeinander herum.
Aber man kann sogar darin noch etwas Positives sehen. Vor der Revolution hatte
ich das Gefühl, dass alle genau wie die andern sein wollten, man war Ägypter,
man war Teil der Nation. Die Revolution liess die Menschen gewahr werden, dass
das eine Illusion ist; sie zwang die Leute, die anderen zu sehen, wie sie sind,
und all die Brüche in der Gesellschaft zu erkennen . Für mich ist das eine
aufklärerische Erfahrung; es ist das Wertvollste, was wir von der Revolution
bewahren konnten.
Als Mohammed Mursi gestürzt wurde,
hatten Sie die Hoffnung, dass der Geist der Revolution Ägypten auch weiterhin
vor neuen Diktatoren schützen würde. Es scheint schwer, noch daran zu glauben.
Ohne Hoffnung können wir nicht leben,
nicht wahr? Natürlich versuche ich gleichzeitig, nicht naiv zu sein. Es wird
keine Revolution geben, wenn das Volk sie nicht mitträgt. Aber im Moment haben
die Menschen das Gefühl, dass eine Revolution nicht der richtige Weg zur
Veränderung ist. Viele Ägypter möchten vor allem Sicherheit; sie wollen nicht
dasselbe Schicksal erleiden wie der Irak oder Syrien. Das kann ich verstehen.
Was ich weniger gut begreife, ist, dass sie deshalb sogar bereit sind, einen
neuen Diktator zu unterstützen . Auch die Staatsmedien spielen dabei eine
Rolle. Sie verzerren einerseits das Bild der Revolution, stellen sie als eine
Verschwörung fremder Mächte dar. Gleichzeitig gelingt es dem Regime
paradoxerweise, den Leuten weiszumachen, es sei der wahre Beschützer der Werte,
welche die ägyptische Revolution portiert hatte.
Wie gehen Aktivisten, die sich – wie
Sie – an vorderster Front für die Revolution engagierten, mit dieser Situation
um?
Viele Aktivisten glauben noch immer
an ihre Ziele. Aber sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Am Anfang war es
unser Stolz, dass es in der Bewegung keine Führer gab. Aber faktisch würden wir
jemanden brauchen, der unsere Bewegung organisiert und ihr eine Richtung gibt.
Übrigens wird auch in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit dem Sisi-Regime
spürbar, aber die Menschen fragen sich: Was ist die Alternative? Was könnten
wir überhaupt tun? Und das sind leider sehr vernünftige Fragen.
Haben Sie sich angesichts dieser
Situation auch schon überlegt, das Land zu verlassen?
Ich hoffe, dass ich nicht fortgehen
muss. Für mich ist diese Zeit ein essenzieller Lernprozess. Aber wenn ich es
einfach nicht mehr aushalte oder wenn die Sicherheit meiner Kinder gefährdet
ist – dann werde ich vielleicht gezwungen sein, über das Fortgehen
nachzudenken.
Via: Neue Zürcher Zeitung